Prozesse

Unsere Vorfahren begannen im Zuge der neolithischen Revolution, sich durch eine Vielzahl neu entwickelter Fertigkeiten einzigartige Vorteile gegenüber anderen Lebewesen zu verschaffen. Dem Menschen gelang es damit, sich sukzessive von naturgegebenen Einschränkungen und Gefahren abzukoppeln. „Neolithische Prozesse“ sind im Sinne dieses Projektes vom Menschen herbeigeführte Prozesse, die unter stark vereinfachenden Annahmen für einen willkürlich abgeschlossenen Rahmen festgelegt werden. Die vielfältigen negativen Auswirkungen der vormals erfolgreichen Praxis sind inzwischen unübersehbar. Zeitgemäßes Prozessdenken erfordert nun eine systematische Minimierung der Gefahren und Nebenwirkungen, die von menschlichem Handeln ausgehen.

Begriffsbestimmung

Für weiterführende Überlegungen verwenden wir den Begriff „Prozess“, um damit ganz allgemein den gerichteten Ablauf eines Geschehens zu beschreiben. Solche Prozesse finden immer und überall statt, beispielsweise:

  • das Gehen eines Sauerteiges
  • die wechselnde Mond-Erde Konstellation, die den Gezeitenwechsel herbeiführt
  • der Bezahlvorgang an einer Supermarktkassa
  • die Kettenreaktion in einem Kernreaktor
  • der geistige Vorgang, der sich beim Durchlesen dieser Zeilen in Ihrem Kopf abspielt

Das planvolle Herbeiführen und Beeinflussen von Prozessen ist keineswegs eine besondere Eigenschaft des Menschen, vielmehr ist sie eine zentrale Fähigkeit aller Lebewesen, wie etwa

  • Darmbakterien, die unser Gehirn und unser Immunsystem gezielt steuern
  • Pflanzen, deren Wurzelsysteme eine Symbiose mit Pilznetzen bilden, um Nährstoffe und Informationen mit benachbarten Artverwandten auszutauschen
  • Bartgeier, die Knochen aus passender Höhe zielgenau über geeigneten Felsen, so genannten „Knochenschmieden“, abwerfen, um sie in mundgerechte Happen aufzusplittern
  • Ameisen, die in ihren Staaten seit abermillionen Jahren eine komplexe Art nachhaltiger Landwirtschaft betreiben

Neolithische Prozesse

Beim Menschen mündete das Herbeiführen und Beeinflussen von Prozessen in einer grundlegenden Veränderung seiner Lebensweise: In der Jungsteinzeit begann sich der Mensch sesshaft zu machen, Land urbar zu machen, Nahrungsmittel systematisch zu bevorraten und Tiere zu domestizieren.

Die Menschheit trat ein in eine Ära folgenreicher Erfindungen, die es ihr ermöglichte, die Gefahren und Unwägbarkeiten, die mit einem früheren Leben als Jäger und Sammler einhergingen, hinter sich zu lassen. Die Menschheit trat damit ein in eine faszinierende Welt ungeahnter Möglichkeiten und Perspektiven, aber auch in eine Welt voller neuer Gefahren und Unsicherheiten.
Die nachhaltige Veränderung der Umstände menschlicher Existenz wird gemeinhin als neolithische Revolution bezeichnet, sie war Grundlage für die erfolgreiche weltweite Etablierung zivilisierter Gesellschaften.

Der Begriff „neolithischer Prozess“, den wir im Kontext dieses Projektes definieren und verwenden, bezieht sich demnach auf Prozesse, die vom Menschen in einem für seine Zwecke abgesteckten Rahmen herbeigeführt oder gezielt verändert werden. Diese Prozesse und darauf beruhende Systeme basieren auf stark vereinfachenden Modellen in einem willkürlich abgegrenzten Definitionsbereich. Inzwischen perfektionierte neolithische Prozesse zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie ihren Zweck innerhalb ihres Definitionsbereichs besonders präzise und weitestgehend zuverlässig erfüllen.

Negative Folgen

Das planmäßige Zusammenwirken einer Vielzahl solcher neolithischer Prozesse versetzt uns heute in die Lage, die Welt mit einer noch nie dagewesenen Effizienz auszubeuten, z.B.

  • globales Lohndumping
  • industrielle Fischerei
  • Rodung von Urwäldern
  • Abbau und Nutzung umweltschädlicher Rohstoffe

Ein außerplanmäßiges Zusammenwirken solcher Wirkungsketten geht vielfach mit Schäden einher, die immer deutlicher werden und die wir im Ausmaß nur sehr schwer limitieren können, z.B.

  • Umweltverschmutzung
  • Klimaveränderung
  • Artensterben
  • Wirtschaftskrisen

Mit dem eigentlichen Zweck eines „planmäßigen Prozessgeschehens“ müssen wir demnach stets auch eine übergeordnete Schadensbilanz sowie Störungen, Beeinträchtigungen und Gefährdungen außerhalb des vorgesehenen Wirkungsbereiches mit ins Kalkül ziehen.

Spätestens seit der industriellen Revolution spitzen sich diese Schäden, Störungen, Beeinträchtigungen und Gefahren dramatisch zu, sie betreffen genau jene Welt, in der auch wir und unsere Kinder leben.

Ein Versuch, diesen Problemen zu begegnen, besteht in der formalen Festlegung von Normen und Standards. Diese haben durchaus dazu beigetragen, das verantwortungsvolle Handeln innerhalb jeweils definierter Rahmen zu verbessern und die von neolithischen Prozessen ausgehenden Nebenwirkungen im jeweiligen „Rahmen des Machbaren“ zu begrenzen. Normen und Standards tragen allerdings auch wesentlich dazu bei, die Eigeninteressen etablierter Organisationen zu festigen, und so unsere Möglichkeiten zu nachhaltigem Handeln mehr zu verbauen als zu fördern.

Es ist also höchste Zeit, unser althergebrachtes „neolithisches“ Prozessdenken hinter uns zu lassen. Es liegt an uns, im persönlichen Alltag, in unserem Beruf und in unserem wie auch immer gearteten persönlichen Engagement ein ganzeitlicheres Prozessdenken zu erarbeiten und zu festigen.

Zeitgemäßes Prozessdenken

Um zu einem zeitgemäßeren Prozessdenken und Handeln zu kommen, haben bedeutende Theorien des vorigen Jahrhunderts, die Quantentheorie und die Chaostheorie, besonders wichtige, für unsere Zwecke aufschlussreiche Erkenntnisse gebracht:

  • Werner Heisenberg hat 1927 im Zuge quantenphysikalischer Betrachtungen eine fundamentale Grenze der klassischen Physik aufgezeigt, indem er die nach ihm benannte Unschärferelation formulierte. Demnach ist es prinzipiell unmöglich, gleichzeitig den Ort und die Geschwindigkeit eines Teilchens beliebig genau zu bestimmen. Wir sind also tatsächlich nicht in der Lage, den Anfangszustand eines wie auch immer beschaffenen Prozesses beliebig genau zu erkennen bzw. festzulegen.
  • Erwin Schrödinger wies 1934 in einem von quantentheoretischen Überlegungen ausgehenden Gedankenexperiment „Schrödingers Katze“ auf die Absurdität hin, in „abgeschlossenen Systemen“ zu denken. Da ich eine Katze auch in Gedanken nicht töten möchte, erspare ich Ihnen und mir die nähere Beschreibung dieses Paradoxons. Jedenfalls verdeutlichte Schrödinger mit seinen Überlegungen, dass jedes beliebige System erst durch seine Wechselwirkung mit der umgebenden Welt überhaupt real sein kann.
  • Edward Norton Lorenz, ein amerikanischer Meteorologe und Pionier der Chaosforschung, stellte 1972 die als Schmetterlingseffekt berühmt gewordene Frage in den Raum, ob der Schlag eines Schmetterlingflügels in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen könne. Formal beschrieb Lorenz das unvorhersagbare Verhalten nichtlinearer Systeme anhand eines mathematischen Modells, dem sogenannten Lorenz-Attraktor. Er vermutete, dass beliebig kleine Veränderungen der Anfangszustände in einem solchen nichtlinearen System früher oder später zu einer vollständigen Änderung des Künftigen gegenüber dem vorhergesagten Ablauf führt. Warwick Tucker bewies 2002 das chaotische Verhalten des Lorenz-Attraktors, und untermauerte damit die These des Schmetterlingeffekts.

Sowohl die praktische Beobachtung als auch die Zusammenführung der dargestellten Erkenntnisse aus der Quanten- und Chaostheorie führen somit zu der Einsicht, dass reale Prozesse hochgradig komplex und im Detail nie wiederkehrend sind. Sie sind vielmehr das Resultat beliebig kleiner, auch ungeplanter Anfangsbedingungen und Wechselwirkungen. Es steht damit außer Zweifel, dass künftige Zustände realer Prozesse tatsächlich nicht vorhersagbar sind.

Die wesentlichen Ziele eines zeitgemäßeren Handelns und Prozessdenkens bestehen mit diesem heutigen Wissen darin,

  • bestehende Prozesse in ihrer Beeinflussbarkeit und in ihrer potentiellen Gesamtwirkung bewusst zu machen
  • den tatsächlichen Zweck und Nutzen auch all jener Prozesse und Prozessketten zu hinterfragen, die wir aufgrund unserer eigenen Ausbildung und Sozialisierung weitgehend unreflektiert übernommen haben
  • zweckmäßige Prozesse bestmöglich an das natürliche Umfeld heranzuführen und die potentielle Schadwirkung unserer Einflussnahme auf die Umwelt zu minimieren

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